... Sie ließ das Ramesseum hinter sich, bog auf den breiten Pfad ab, der
hinter dem verlassenen Dorf hinauf ins Gebirge führte. Dröhnend robbte
der alte Defender sich über das holperige Gelände nach oben. Sie konnte
fast nicht auf den buckligen, rechts von ihr steil abfallenden Weg hoch
über dem alten Qurna achten, so sehr ging ihr der Streit mit Raphael
nach. Er zeigte sich kaum versöhnlich, und so hatte sie versucht, im
Winter Palace ein Zimmer zu bekommen. Darauf hoffend, daß in ein paar
Tagen endlich Gras über die Sache gewachsen wäre, sie am Donnerstag wie
früher bei ihm zwei Tage übernachten könnte.
Anna zog die Handbremse, öffnete die knarzende Tür, stieg aus, nahm den
Rucksack, machte sich auf den Weg zu der einsamen Felsenkammer. Es
schien ihre letzte Hoffnung zu sein, SIE hier anzutreffen. Nirgendwo
anders hatte Anna sie getroffen. Nicht am Hotel, nicht in der Stadt,
nicht an den Tempeln. Wahrscheinlich war alles Erlebte sowieso einfach
einem gräßlichen Alptraum, ihrer dummen Phantasie entsprungen. Sie
konnte doch nicht wirklich davon ausgehen, hier eine Göttin getroffen zu
haben … Angesichts aller anderen Probleme schob sie all diese abstrusen
Gedanken sowieso allmählich in die Richtung von total plemplem …
Unten im Rucksack nach dem Schlüssel kramend, blieb sie abrupt stehen,
bemerkte die geöffnete Tür. Wenn sie auch dem Penner unerlaubterweise
die Kammer als Unterschlupf, als Versteck vor Raphael gewährt hatte, so
hatte er ihr doch in die Hand versprochen, acht zu geben und das
Eisentor stets ordentlich hinter sich zu verschließen.
Da drin war jemand! Das Licht einer Taschenlampe flackerte! Aber der
Alte fegte und werkelte doch im Haus der Archäologen, jedenfalls noch
vor gut einer Stunde. Sie selbst wollte die ausgedehnte Mittagspause
nutzen um hier irgendwie irgendeinen … völlig gaga … ja was nur? Kontakt
herzustellen? Wie lächerlich sich das anhörte!
Anna bückte sich, hob einen dicken Stein auf, trat leise zum Eingang
unter dem Felsvorsprung hin, ließ den Rucksack auf den Boden gleiten.
Scheppernd riß sie die Tür ganz auf, „Was machen Sie hier drin?“,
rufend, gleichzeitig den Unterarm vor die Augen legend, weil das Licht
der Lampe bösartig blendete, im gleichen Augenblick verlöschte.
„Schon gut, Lady!“
„Raphael!“
„Ich dachte, ich finde ihn hier.“
„Wen?“
„Du weißt, wen ich meine! Sah ihn hier drin verschwinden, gestern!“
„Hier ist niemand!“
„Was ist das für eine Höhle? Ein Grab? Was machst
du hier?“
„Darin stand die Statue!“
„Deine Statue?“
„Die ist nicht mein! Wie siehst du nur aus?“
„Wir sind hier im Gebirge. Da brauchst du anständige Kleidung!“
„Das sind Tarnklamotten vom Bund! Und was soll dieses Messer an deinem
Gürtel? Du könntest glatt in den Krieg ziehen!“
„Hab’s im Schrank gefunden.“
„Laß ab, Raphael! Versündige dich nicht!“
„Meine Sünden sollten dir schnurz sein! Auge um Auge, Anna! Er wird mir
nicht entkommen!“
„Denk an deinen Großvater!“
„An ihn denke ich ständig! An die Angst und den Schmerz, den der alte
Mann hätte haben können, wenn er erfahren hätte, daß sein Enkel in Luxor
auf offener Straße wie eine abgestochene Sau krepiert wäre!“
„Und Sara…“
„Ich sehe noch die Angst in ihren Augen, als ich im Krankenhaus wieder
zu mir kam, sie an meinem Bett saß, verheult, krank vor Sorge! Und deine
Angst! Deine Verzweiflung. Das wird er mir büßen, Anna.
Wo ist er?“
„Das weiß ich doch nicht!“
„Warum bist du hergekommen?“
„Ich suchte jemand.“
„Hier? In dieser Ödnis? Weitab vom Strom und der Wege der Touris? Du
weißt, wo er ist! Und du weißt, daß er hierherkommt! Da stehen ein paar
Wasserflaschen, eine Decke, Kissen, eine Sportmatte liegen da in der
Ecke hinter der Steintür! Ein bißchen Krempel, eine Kerze. Und in dieser
Tüte sind ein paar haltbare Lebensmittel, Konserven! Wer haust hier?“
„Ein alter Mann, mein Junge!“, polterte es vom Eingang her. Eine Stimme
wie Donnerhall, die wie ein unheimliches Echo in der düsteren Kammer
widerhallte! Anna krallte sich erschrocken in Raphaels Arm, trat mit ihm
hinaus in den blendenden, grellen Sonnenschein.
„Der Herr Roth! Sieh an! Auf einem Ausflug?“, zischte Raphael böse
spöttelnd. „Auf der Suche nach Antiquitäten?“ ...